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Rechtsstaat Mexiko? - Tagungsbericht

Lesedauer: 8 Minuten
Bischof José Raúl Vera auf der Tagung "Rechtsstaat Mexiko?" Foto: Maika Ijurko. Copyright: alle Rechte vorbehalten. Maika Ijurko, www.laluna-photography.de.

5. Dezember 2012
Ole Schulz

„Es wird immer schwieriger abzuschätzen, von wem Gewaltverbrechen verübt wurden“, sagt Agnieszka Raczynska von RedTDT, einem Netzwerk von mexikanischen Menschenrechtsorganisationen, auf dem Podium der Heinrich-Böll-Stiftung. Das ist nur eine Folge des „Kriegs gegen das Organisierte Verbrechen“, den Felipe Calderón – mittlerweile Ex-Präsident Mexikos – 2006 ausgerufen hat. Denn für die Eskalation der Gewalt, die nach Schätzungen schon über 60.000 Tote gefordert hat, sind nicht allein die Drogenkartelle verantwortlich, auch staatliche Sicherheitskräfte sind zunehmend in Menschrechtsverletzungen verwickelt. Für Raczynskas Kollegen David Bermúdez Jiménez, Direktor der Organisation SERAPAZ (Dienste und Beratung für den Frieden), hat die Militarisierung der Gesellschaft in den letzten sechs Jahren vor allem eines bewirkt: dass in Mexiko ein Klima der Angst herrsche, welches die Gesellschaft paralysiere.

Gleichzeitig ist das Leben nicht überall gleichermaßen von Gewalt geprägt, sondern abhängig vom jeweiligen Wohnort, und Mexiko gilt als „emerging economy“ und aufstrebendes Schwellenland, das auch auf internationaler politischer Bühne in Erscheinung tritt. Vom Bundeswirtschaftsministerium wurde Mexiko darum als einer der neuen prioritären Zielmärkte für eine privilegierte wirtschaftliche Partnerschaft definiert.

Vernetzungstreffen zivilgesellschaftlicher Organisationen

Unter dem Titel „Rechtsstaat Mexiko?“ haben die Deutsche Menschenrechtskoordination Mexiko (DMRKM) und die Heinrich-Böll-Stiftung die komplexe Ausgangslage als Anlass für eine dreitägige Tagung genommen. Sie sei als explizites Vernetzungstreffen zivilgesellschaftlicher Organisationen aus Mexiko gedacht, erläutern die Veranstalterinnen. Die Konferenz in den Räumlichkeiten der Heinrich-Böll-Stiftung wurde dabei rund um einen symbolischen Tag gelegt: Am 1. Dezember hat der im Juli gewählte Enrique Peña Nieto die Präsidentschaft übernommen. Damit kehrt die Partido Revolucionario Institucional (PRI) nach zwölf Jahren wieder an die Schalthebel der Macht zurück, die sie zuvor schon 70 Jahre innehatte.

Auffallend ist, wie jung viele Teilnehmer/innen der Tagung sind; deutsche Studierende wie in Deutschland lebende mexikanische Aktivist/innen beteiligen sich angeregt an den Diskussionen – darunter Vertreter der in Mexiko von Studenten initiierten Movimiento Yo soy 132 und des Doktoranden-Kollektivs México vía Berlin.

Zunächst beschreibt Bischof José Raúl Vera das „heimliche Einverständnis“ zwischen dem Staat und dem organisierten Verbrechen und die daraus resultierende hohe Straflosigkeit. Vera, Befreiungstheologe und Bischof von Saltillo, ist der wohl prominenteste Gast in Berlin. Eine weitere Ikone aus Mexiko ist die Journalistin Ana Lilia Pérez – die Journalistin und Schriftstellerin hat zeitweilig Zuflucht in Hamburg gefunden, ihre investigativen Recherchen haben sie in ihrer Heimat in Lebensgefahr gebracht. Pérez schildert am Beispiel des staatlichen Ölkonzerns Pemex – seine Einnahmen sichern rund 40 Prozent des Staatshaushaltes – wie sich die Korruption in Mexiko ausgebreitet hat. Heute bedienen sich Politiker ebenso am schwarzen Gold wie die Drogenkartelle. Der Anti-Drogenkrieg hat laut Pérez nur dazu geführt, dass die Kartelle ihre Tätigkeiten diversifiziert und legalisiert haben – längst gehören zu ihren Aktivitäten neben Erpressung, Menschenhandel oder dem Öl-Geschäft etwa auch Investitionen im Immobiliensektor. „Das wäre ohne die Komplizenschaft des Staates, der Banken und Unternehmer nicht möglich gewesen.“

Straflosigkeit und Sicherheitsabkommen

Rechtliche Fragen und das Problem der weit verbreiteten Straflosigkeit sind während der drei Tage in der Heinrich-Böll-Stiftung immer wieder Thema. Dabei sind sich die Gäste darüber weitgehend einig, dass Mexiko derzeit bei aller fortschrittlichen Gesetzgebung allenfalls formal als Rechtsstaat gelten kann und der Tagungstitel mit einiger Berechtigung ein Fragezeichen trägt. Trotz aller Versuche der mexikanischen Regierung, sich nach außen ein positives Image zu geben, gibt es nachweislich eine Kriminalisierung der sozialen Bewegungen und systematische Menschenrechtsverletzungen, an denen Teile der Polizei und des Militärs beteiligt sind – sowohl Fälle von Folter und illegalen Festnahmen als auch außergerichtliche Hinrichtungen und das Verschwindenlassen von Personen. „Es kommt vor, dass der Beamte, bei dem man eine Straftat anzeigen will, derjenige ist, der sie begangen hat“, sagt Ana Lilia Pérez.

Darum wird das geplante Sicherheitsabkommen, das eine Zusammenarbeit der Polizei in Deutschland und Mexiko bei Ausstattung und Ausbildung ermöglicht, in Berlin fast einhellig abgelehnt; auch die DMRKM hat es in einem ausführlichen Positionspapier scharf kritisiert und einen Politikwandel in Sachen Menschenrechte zur Voraussetzung gemacht. Ungeachtet dieser Forderung sieht das deutsche Innenministerium ein Sicherheitsabkommen weiterhin als geeignetes Instrument, die Polizeiarbeit in Mexiko zu professionalisieren. Der Publizist Peter Clausing vermutet eine Art „Kuhhandel“: Die deutsche Regierung komme im Interesse der Exportwirtschaft dem mexikanischen Wunsch nach, der Teil seiner Legitimationsstrategie sei. Einzig ein Mitarbeiter der Stiftung Wissenschaft und Politik aus dem Publikum kann dem Abkommen etwas abgewinnen – sofern dadurch der mexikanischen Generalstaatsanwaltschaft, ein bisher schwacher Akteur, dabei geholfen werde, ihre Ermittlungstätigkeiten besser auszuführen. Bei der Tagung kommen die Teilnehmenden zu dem Schluss, dass die Verhandlungen über das sich abzeichnende Sicherheitsabkommen zumindest weiter aufmerksam begleitet werden müsse.

Forderung nach Aufklärung: illegaler Waffenhandel mit Mexiko

Die deutsche Mexiko-Politik gibt ohnehin ein insgesamt ziemlich unrühmliches Bild ab: Jürgen Grässlin, Sprecher der Kampagne „Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel!“, und der Autor Wolf-Dieter Vogel präsentieren in Berlin neue Indizien dafür, dass das deutsche Rüstungsunternehmen Heckler & Koch widerrechtlich Tausende G-36-Sturmgewehre an vier mexikanische Bundessstaaten geliefert hat. Grässlin fordert deshalb, dass einerseits der gegen Heckler & Koch angeregte Prozess im kommenden Jahr endlich eröffnet und andererseits umgehend ein generelles deutsches Waffenembargo für Mexiko verhängt wird.

Reform des Strafrechts und der Militärgesetzgebung

Es werden bei der Tagung aber auch Erfolge deutlich, gerade im Bereich der mexikanischen Rechtsprechung. Dazu zählt die 2008 eingeleitete Strafrechtsreform. Dadurch soll überhaupt erst eine mündlich geführte, öffentliche Hauptverhandlung im Rechtssystem Mexikos implementiert werden – bisher sind die oft unter Druck und Folter erzwungenen schriftlichen Geständnisse Einfallstor für manipulierte Beweise. Allerdings wird die Reform bisher erst in weniger als einem Drittel der 27 Bundesstaaten eingeführt.

Ebenfalls wichtig ist die mühsame Reform der Militärgesetzgebung: Nach mehreren Urteilen des Interamerikanischen Gerichtshofs, die vom Obersten Gerichtshof Mexikos bestätigt wurden, sollen durch Soldaten  begangene Menschenrechtsverletzungen künftig vor Zivilgerichten verhandelt werden – und nicht mehr der Militärgerichtsbarkeit unterstehen. Doch auch das muss erst noch in die Rechtspraxis umgesetzt werden.

Vidulfo Rosales Sierra vom Menschenrechtszentrum Centro de Derechos Humanos de la Montaña – „Tlachinollan“ sieht das dennoch als großen Schritt: „Vor zehn Jahren war die Militärgerichtsbarkeit noch unantastbar“. Rupert Knox, Mexico-Researcher von Amnesty International, unterstreicht diese Einschätzung und macht den Druck zivilgesellschaftlicher Organisationen für die Fortschritte im mexikanischen Rechtssystem verantwortlich. Gerade die langjährige Begleitung einzelner Fälle vor Gericht, oft mit Unterstützung aus dem Ausland, hat sich als geeignet erwiesen, die Reform des Justizwesens voranzubringen. Rosales Sierra hofft, dass dadurch in Mexiko irgendwann auch allgemeine Rechte wie das auf Bildung oder Gesundheit „justitiabel“ werden.

Migration und Landrechte

Schließlich wird auch auf einen besonders benachteiligten Personenkreis sowie aktuelle Entwicklungen hingewiesen: Zum einen auf die extrem verwundbare Gruppe der Migrant/innen, die Mexico auf dem Weg in die USA durchqueren und regelmäßig an Mitglieder der Kartelle Wegegeld zahlen müssen; wenn sie nicht sogar entführt werden, um von ihren Angehörigen Lösegeld zu erpressen.

Zum anderen auf die steigende Zahl von Konflikten um Landrechte und –nutzung in Mexiko, in die häufig ausländische Bergbau-Unternehmen verwickelt sind. José Rosario Marroquín Farrera, Leiter des Menschenrechtszentrums ProDH, berichtet zum Beispiel von Bestrebungen der Regierung, den Verkauf von Gemeindeland zu erleichtern.

Zivilgesellschaftliche Antworten

Der letzte Konferenztag ist vor allem der Suche nach zivilgesellschaftlichen Antworten auf die von Gewalt und Rechtsunsicherheit gekennzeichnete Lage gewidmet. Vor einem Jahr hatte die Heinrich-Böll-Stiftung in Mexiko ein lateinamerikanisches Vernetzungstreffen lokaler Akteure gegen Unsicherheit und Gewalt organisiert. Rodolfo Aguirre vom Mexiko-Büro der Stiftung fasst in der Schlussrunde die Ergebnisse zusammen: Es gehe darum, eine „Kultur der Legalität“ und eine „Kultur des Friedens“ aufzubauen, wozu auch eine neue Wertschätzung eines jeden Lebens gehöre – nicht zuletzt jenes von Frauen. Eine erschreckend hohe Zahl von Frauen werden allein aufgrund ihres Geschlechtes gequält und ermordet („Feminizide“). Zudem, so Rodolfo Aguirre, müssten die meist anonymisierten Opfer als Personen mit Namen und Lebensgeschichten sichtbar gemacht werden.

David Bermúdez Jiménez von SERAPAZ betont währenddessen die Bedeutung psychosozialer Betreuung der Opfer, die es ihnen ermögliche, ihre Würde wiederzuerlangen, und Bischof Vera wünscht sich einen Wandel der Mexikaner zu „bewusst Handelnden“, die erkennen, welche Möglichkeiten sie haben, wenn sie sich artikulieren. Daran knüpft auch die Journalistin Ana Lilia Pérez an: „Wir können der Regierung nicht die Schuld an allem geben.“ Viele Verbrechen würden erst durch das allgemeine Wegschauen ermöglicht, weshalb ein gesellschaftlicher Wandel eine Herausforderung sei, die jeden einzelnen Bürger betreffe.

Trotz aller scherwiegenden Probleme bleiben die Teilnehmer und Teilnehmerinnen der Tagung hoffnungsvoll. Ana Lilia Pérez beschreibt die Stimmung mit einem Bild: „Der Himmel über Mexiko ist grau, aber wir hoffen, dass die Sonne aufgeht.“

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Ole Schulz ist Historiker und Journalist (u.a. -taz- und Deutschlandradio Kultur) und regelmäßig in Mittel- und Lateinamerika